Eines meiner Lieblingslieder von Reinhard Mey trägt den Titel „Zeugnistag“. Darin geht es um einen 12jährigen Jungen, der ein so miserables Schulzeugnis bekommt, dass er sich nicht traut, es seinen Eltern vorzulegen; er fälscht sogar die benötigten Zeugnis-Unterschriften seiner Eltern. Der Rektor entdeckt den Betrug, worauf er die Eltern in die Schule einbestellt. Der Junge sieht die drohende Katastrophe auf sich zukommen. Doch zur großen Überraschung stellen sich die Eltern auf die Seite ihres Kindes und behaupten, die Zeugnis-Unterschriften seien echt. So bleibt ihrem Sohn die Blamage im Angesicht des Rektors erspart. (Dieses Ver-halten möchte ich natürlich so nicht zur Nachahmung empfehlen!)
In diesen Tagen werden wieder Zeugnisse ausgeteilt und auch manche Hoffnung wird ent-täuscht werden, wenn Noten nicht so gut sind oder gar eine Klasse wiederholt werden muss.
Würde es Schülern nun helfen, wenn Noten und Sitzenbleiben grundsätzlich abgeschafft würden, um Enttäuschungen zu vermeiden? Die Landesregierung geht diesen Weg: So kann an den 271 Gemeinschaftsschulen im Land nicht mehr sitzengeblieben werden und zukünftig ist das Sitzenbleiben auch an den Realschulen in der 5. Klasse ausgesetzt.
Ich bin wahrlich kein Anhänger einer stockkonservativen Pädagogik, ich halte diese Entwicklung aber für problematisch: Zum einen hatten Lehrer bislang aus guten Gründen einen ge-wissen Entscheidungsspielraum (z. B. Versetzung auf Probe), um schülergerechte Lösungen zu finden. Mit dem grundsätzlichen Abschaffen des Sitzenbleibens wird diese pädagogische Freiheit erheblich eingeschränkt. Zum anderen tun wir unserer jungen Generation damit keinen Gefallen: Wo sonst, wenn nicht durch Lehrer an einer Schule, sollten junge Menschen Schritt für Schritt darauf vorbereitet werden, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der Anstrengung und Leistungsbereitschaft wichtige Werte sind? Denn nach dem Schulabschluss erwarten die junge Generation immer wieder Hindernisse, die es zu überwinden gilt. Warum sollte es da richtig sein, Hürden aus der Schule zu verbannen?
Zurück zu Reinhard Mey: Das Scheitern an Hürden gehört zu den unangenehmen, aber auch nützlichen Erfahrungen im Leben. Schüler brauchen Eltern, die zu ihnen stehen und Gebor-genheit schenken. Ihnen sollte Mut gemacht werden, sich aufzurichten, aus der Erfahrung zu lernen und dann einen neuen Anlauf zu wagen.