Dieser Artikel ist im VBE-Magazin, Ausgabe März 2013, veröffentlicht worden.

Er habe nicht gesagt, dass das Sitzenbleiben verboten werden solle, verteidigte sich Kultusminister Stoch, nachdem seine Äußerungen in der öffentlichen Debatte über das Wiederholen von Klassen hier Überraschung, dort Sorge ausgelöst hatten. Tatsächlich hat der neue Kultusminister, noch keine 100 Tage im Amt, kein ausdrückliches Verbot des Sitzenbleibens gefordert. „Die Angst vor dem Sitzenbleiben ist keine sinnvolle Lernmotivation für die Schüler“, so Stoch. Also könnte man sich beruhigt zurücklehnen und sich fragen: Wozu die Aufregung? Schließlich arbeitet doch jeder Lehrer wie hoffentlich auch jeder Bildungspolitiker darauf hin, dass die Schüler möglichst erfolgreich ihre Schullaufbahn abschließen. Und es liegt in der Logik dieses Bestrebens, das Wiederholen einer Klasse möglichst überflüssig zu machen. Man könnte sich aber auch fragen, warum sich der baden-württembergische Kultusminister zu einer Debatte äußert, die sich auf ein geplantes Gesetzesvorhaben in Niedersachsen bezieht. Und eine nervöse Klarstellung, niemand habe die Absicht, das Sitzenbleiben zu verbieten, mag den skeptischen Betrachter sogar noch besorgter stimmen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt…

Unabhängig davon, wie tatsächlich gehandelt wird, muss dem Kultusminister bewusst sein, dass seine Äußerungen eine bestimmte psychologische Wirkung haben. Es wird das Signal ausgesandt, dass die grün-rote Landesregierung ein weiteres ungeliebtes Mahnmal aus der vermeintlich düsteren schwarz-gelben Regierungszeit einreißt. Tatsächlich ist der (Verbal-) Angriff auf das Sitzenbleiben nur ein Element in einer ganzen Serie von systematischen Versuchen, das leistungsorientierte und differenzierte Bildungswesen in Baden-Württemberg zum Einsturz zu bringen. Diese Serie begann mit der völlig unüberlegten und überstürzten Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung und fand ihre Fortsetzung in der Demontage der Werkrealschule, bei der nicht nur die Kooperation mit den Berufsfachschulen, sondern auch die Notenhürde beim Übergang von Klasse 9 in Klasse 10 gekippt und der Hauptschulabschluss als ein Regelabschluss nach Klasse 10 eingeführt wurde. Und während alle anderen Schularten unter Druck geraten beziehungsweise gezielt unter Druck gesetzt werden, erhält allein die neu eingeführte Gemeinschaftsschule die besondere Aufmerksamkeit und finanzielle Zuwendung der Landesregierung. Die demographische Not vieler Schulträger nicht nur im ländlichen Raum ausnutzend, implementiert Grün-Rot die Gemeinschaftsschule mit atemberaubender Geschwindigkeit an zahlreichen Orten, obwohl nicht einmal ein Bildungsplan, ein befriedigendes Lehreraus- und –fortbildungskonzept oder ansatzweise belastbare Erfahrungswerte zur neuen Schulart vorliegen. Die Gemeinschaftsschule wird mithilfe von zu ihren Gunsten verzerrten Wettbewerbsbedingungen zur Leitschulart gemacht, und ihre Pädagogik der stark individualisierten Lernformen in heterogenen Lerngruppen ohne äußere Leistungsdifferenzierung wird damit zur Leitpädagogik. Bei dieser Pädagogik ist das Wiederholen von Klassen ebenso wenig vorgesehen wie Noten, die in der Gemeinschaftsschule mindestens ihren Stellenwert verlieren. Um Missverständnissen vorzubeugen: Wo die Verantwortlichen vor Ort aus Überzeugung für eine Gemeinschaftsschule votieren, sollte man sich dem Vorhaben nicht in den Weg stellen. Aber es ist doch sehr fraglich, ob die Gemeinschaftsschulpädagogik als Leitpädagogik für alle baden-württembergischen Schulen taugt. Umso mehr, als unser Schulwesen in allen Leistungsvergleichen Medaillenränge belegt hat, die Arbeitslosigkeit sich im bundesweiten Vergleich auf einem niedrigen Niveau (derzeit 4,3 Prozent) hält, und auch die Quoten des Klassenwiederholens erfreulich niedrig sind (0,6% der Grundschüler, 1,5% der Werkreal- und Hauptschüler, 2,7% der Realschüler und 2,2% der Gymnasiasten mussten 2011 in Baden-Württemberg die Klasse wiederholen). Das spricht insgesamt dafür, dass dieses Schulwesen mit seinem differenzierten und leistungsorientierten Ansatz nicht gänzlich daneben gelegen haben kann. Es ist deshalb geradezu fahrlässig gehandelt, diese Grundprinzipien zugunsten einer neuen Pädagogik über den Haufen zu werfen, ohne dass deren Überlegenheit bei der bestmöglichen Förderung jedes einzelnen jungen Menschen nachgewiesen wäre. Und aus meiner eigenen Erfahrung als Lehrer bezweifle ich, dass es gut und richtig ist, die einem Pädagogen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Leistungsförderung stark einzuschränken. Die grün-rot getragene Landesregierung sollte sich statt dessen bewusst machen, dass eine Nichtversetzungsentscheidung niemals leichtfertig getroffen wird und überdies die bestehenden Alternativen einer Versetzung auf Probe oder die Versetzung mit einer Zweidrittelmehrheit der Klassenkonferenz vorher intensiv geprüft und, wenn sie aussichtsreich erscheinen, auch gewählt werden. Bewusst machen sollte sich die Landesregierung und hier vor allem die sie (mit-) tragende SPD, dass gerade die Schülerinnen und Schüler, die schwächere Lernvoraussetzungen mitbringen, eine Lehrerpersönlichkeit brauchen, die ihnen je nach Situation Hand und/oder Stirn bietet. Will man allen Schülerinnen und Schülern einen Aufstieg durch Bildung ermöglichen, sind deshalb äußere Leistungsanreize für die Motivation unverzichtbar, und gerade den Schwächeren erweist man mit dem Verzicht auf Leistungsanforderungen einen Bärendienst. Ich kann deshalb namens der FDP nur an die grün-rote Landesregierung appellieren, auf ihre wohlfeilen Angriffe auf leistungsorientierte Elemente im baden-württembergischen Bildungswesen zu verzichten und statt dessen Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, unter denen die unterschiedlichen Schularten und pädagogischen Konzepte ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen können. Alles andere ist nur dazu geeignet, unser Bildungswesen im bundesweiten, europäischen und internationalen Vergleich von den Medaillenrängen ins Mittelmaß rutschen zu lassen – ohne dass die Möglichkeit bestünde, Verpasstes zu wiederholen.

Dr. Timm Kern, MdL, bildungspolitischer Sprecher der FDP/DVP-Landtagsfraktion